Prof. Dr. Johann Füller sitzt im Vorstand der Innovationsschmiede HYVE und kennt sich in Sachen Trends und Innovationen aus wie kein zweiter. Als Versicherer, der sich innovative Digitallösungen auf die Fahnen geschrieben hat, haben wir ihn zum Interview gebeten und gefragt: Wie ist der Stand im Hinblick auf die Digitalisierung in Deutschland und wird sich die digitale Versicherung etablieren?

Herr Prof. Dr. Füller, das Thema Digitalisierung zieht sich durch alle Lebens- und Geschäftsbereiche. Manche Branchen sind dabei schon sehr digital, wenn man an Reisen, Banking oder Online-Shopping denkt. Digitalversicherungen stehen erst am Anfang. Woran könnte das liegen?

Da stimme ich Ihnen zu, ich denke es könnte daran liegen, dass die Vertriebswege und das Geschäftsgebaren von Versicherungen lange Zeit einfach nicht hinterfragt wurden. Für Start-ups handelte es sich nicht unbedingt um ein lukratives und interessantes Geschäft. Viele traditionelle Akteure, wie zum Beispiel Versicherungsmakler, haben außerdem keinerlei Interesse daran, ihr Geschäft aus der Hand zu geben. Auf der anderen Seite sprechen Versicherungen klassischerweise alle Bevölkerungsgruppen und alle geographischen Regionen an, so dass insgesamt gesehen ja ein Großteil der Kunden sehr zufrieden damit war, den Makler oder Versicherungsberater direkt im Ort zu haben. Der berät die Familien zum Teil schon seit Generationen und daher können sich viele auch nicht vorstellen, diesen Bereich komplett in den Online-Bereich zu verlegen.

Mit welchen Innovationen können wir Ihrer Meinung nach in der Versicherungsbranche in den nächsten Jahren rechnen?

Die oben angesprochenen Zeiten ändern sich meiner Meinung nach gerade – und nicht nur in Zeiten von Corona, in denen ohnehin niemand zum Versicherungsberater gehen konnte. Immer mehr Menschen wollen solche alltäglichen Dinge flexibler gestalten, also auch mal an einem Samstag oder von unterwegs aus erledigen. Der gesamte Prozess angefangen beim Vertragsabschluss, über die Kundenbetreuung bis hin zur Regulierung im Schadenfall wird früher oder später digital ablaufen. Besonders repetetive Arbeiten, die bisher ein Mensch gemacht hat, wie zum Beispiel die Bearbeitung eines Kfz-Gutachtens, könnte in Zukunft mittels Künstlicher Intelligenz gelöst werden. Es gibt bereits Projekte auf diesem Gebiet, wo beispielsweise Fotos von Autounfällen gesammelt werden, auf deren Basis dann die Schadenhöhe berechnet werden kann. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass es wie in anderen Branchen auch zu einer Bereinigung des Marktes kommen wird – einige Anbieter werden mit Sicherheit verschwinden. Im Gegensatz entstehen dafür oft Spezialnischen der Branche, zum Beispiel rund um das Thema Häusersicherheit, Gesundheit oder die Rente. Das dreht sich dann aber nicht mehr allein um die Versicherung, sondern um ein ganzheitliches Konzept. Die Anbieter könnten dann vielleicht sogar Google oder Amazon heißen. Ich denke es gibt hier sehr interessante Entwicklungsmöglichkeiten, aber eines ist sicher: Versicherungen, die nicht in der Lage sind, sich von dem klassischen Maklergeschäft zu lösen und zu einem digitalen Angebot zu entwickeln, haben ein Problem.

„Menschen wollen alltägliche Dinge flexibler gestalten – auch Versicherungen. Der gesamte Prozess bis hin zur Regulierung im Schadenfall wird früher oder später digital ablaufen.“

Welche Faktoren hindern grundsätzlich die Digitalisierung? Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Das Hauptproblem ist eindeutig der Erfolg in der Vergangenheit. Man hat diese große gut geölte Maschine mit allen Prozessen, Abläufen und auch Mitarbeitern über Jahrzehnte lang optimiert – und zwar, wie das Versicherungsgeschäft eben aussieht: physisch und nicht digital. Bei den meisten kommt früher oder später die Erkenntnis, dass es da eine neue Form des Geschäfts gäbe, aber je größer die eigene Maschine ist, je besser sie rollt, desto mehr muss auch geändert werden, desto mehr Geld muss für eine Umstellung aufgewendet werden, desto träger sind letztendlich die Entscheidungen und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Geschäftsführer Angst davor haben an Know-how, Macht etc. zu verlieren. Und viele sind auch einfach zu bequem. Es braucht viel Überzeugungsfähigkeit, Engagement, Konsequenz und auch Risk-Taking sowie die Bereitschaft, sich zu kannibalisieren und bestehende Modelle über Bord zu werfen – und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Maschine noch relativ gut läuft.

Check-in am Flughafen

Unser Versicherungsangebot ist voll-digital. Das bedeutet unter anderem, dass unsere Kunden ausschließlich mittels Chatbot oder E-Mail mit uns kommunizieren können. Wie sehen Sie den Abschied von der Telefon-Hotline?

Hier gibt es zwei Typen, die „Early Adopter“, die gerne Neues ausprobieren und denen der traditionelle Weg ohnehin bereits zu langsam oder umständlich war. Auf der anderen Seite die sogenannten „Late Adopter“, die erst sehr spät positiv auf technische Neuheiten reagieren. Ich erzähle immer gerne ein Beispiel aus meiner Vergangenheit. So bin ich bei früheren Geschäftsreisen, bei denen wir auch Business Class fliegen durften, immer sehr gerne zum eigenen Schalter eben dieser gegangen, um auch die entsprechende Extra-Behandlung, inklusive nettem Gespräch mit den Flugbegleitern, zu erhalten. Damals hätte ich mir nie vorstellen können, dieses nette Erlebnis zu missen und wollte auch die Bordkarten-Automaten nicht nutzen, als diese an allen Flughäfen aufkamen. Aber manchmal, wenn es ich es ganz eilig hatte, nutzte ich sie doch. Und mit der Zeit habe ich dann gemerkt, dass es eigentlich gar nicht so dumm ist, alles viel schneller geht und ich länger schlafen kann. Mit der Zeit habe ich die Vorteile immer mehr zu schätzen gewusst und heute bin ich froh, dass ich alles im Internet erledigen kann und ohne Interaktionen und Komplikationen in den Flieger steigen kann. Was ich damit sagen will ist, dass der Transformationsprozess immer eine Entwicklung ist. Dabei gibt es Menschen die Neues schnell annehmen und andere die länger brauchen. Wie schnell eine Innovation angenommen wird, ist aber nicht nur davon abhängig, wie empfänglich die Menschen sind, sondern vor allem davon, welche Lösung diese bietet und wie gut sie umgesetzt ist. Eine Neuheit muss eindeutige Vorteile bieten und darf nicht viel Aufwand bedeuten.

„Transformationsprozesse sind immer eine Entwicklung. Dabei gibt es Menschen die Neues schnell annehmen und andere die länger brauchen.“

Wie wird sich das Leben im Hinblick auf die digitale Transformation generell ändern? Haben Sie ein Zukunftsszenario vor Augen?

Wir befinden uns bereits mitten in der Digitalisierung, unser Leben hat sich ja bereits wahnsinnig verändert, wenn wir an die „Groundbreaking Technologies“ denken wie Dampfmaschinen, Elektrizität und eben auch das Internet. Aber was genau ist eigentlich diese Digitalisierung? In meinen Augen umfasst sie vor allem Big Data, 3D-Druck, Internet of Things, und dass die Bandbreite des Internets wie etwa bei 5G so groß ist, dass alle Geräte in einem Haus miteinander vernetzt werden können. Das beginnt bei mobilen Geräten wie Handys bis zur Bohrmaschine oder zum Duschkopf. Hinzu kommt dann noch die Virtualisierung wie Augmented Reality oder Video-Streaming. Vor allem Smartphones haben unser Leben jedoch schon extrem verändert – Stichwort Online-Urlaubsbuchungen, Navigation oder die Bewertungen von Restaurants. Ein extremes Beispiel wäre die Echtzeit-Auswertung von Situationen wie etwa in China, wo die Bevölkerung voll überwacht wird und jeder Gang über eine rote Ampel angezeigt wird.

Inwieweit wird die Corona-Krise die Digitalisierung vorantreiben?

Natürlich sehr. Dinge, vor denen sich viele gedrückt haben oder auf die sie sich nur bedingt und vor allem nicht konsequent eingelassen haben, müssen nun umgesetzt werden. Man war quasi zum Erfolg verpflichtet. Außerdem hat Corona wieder einmal gezeigt, wie anpassungsfähig Menschen sind. Die Pandemie ist außerdem ein sehr großer Treiber für Remote Working und wird das geschäftliche Reiseverhalten nachhaltig prägen. Anfangs hatten viele Unternehmen ihre Probleme und vieles lief erstmal schlechter – wie immer wenn sich etwas so radikal ändert. Die meisten haben das gut gelöst.

Homeoffice: Frau sitzt mit Laptop auf der Couch

Bleiben wir beim Thema: Stichwort Home-Office und flexibles Arbeiten. Wie wichtig ist Agilität im Arbeitsalltag als Motor für die Entstehung von Innovation? Oder besteht hier kein Zusammenhang?

Agilität ist absolut wichtig, im Denken, im Ausprobieren, im Handeln. Agilität und Flexibilität sind überhaupt ausschlaggebend, um neue Gedanken im Kopf zuzulassen und den Mut aufzubringen, diese auch anzugehen. Im Gegenteil, wenn man festgefahren und starr ist, wird sich nie etwas ändern. Agilität ist deshalb so wichtig, weil anfangs ja nie klar ist, was die Zukunft bringt und ob der eingeschlagene Weg der Richtige ist. Daher ist es besonders wichtig, sich agil auf neue Situationen und Gedankenexperimente einlassen zu können. Je schneller das funktioniert und je weniger Ressourcen und Zeit dafür aufgebracht werden müssen, desto besser. Wie in der Evolution: Nicht der Große und Starke gewinnt, sondern der Schnelle und Anpassungsfähige.

Wie innovativ ist Deutschland im weltweiten Vergleich?

Innovation bedeutet ja Erfinden und Vermarkten und ich denke, wir haben sehr viele gute Erfinder, Denker und kreative Köpfe in Deutschland. Es mangelt definitiv nicht an den Ideen, aber wir sind leider nicht die besten Skalierer. Hier können wir von den Amerikanern lernen. Aus Angst vor großen Zahlen, Verlusten und auch vor dem Scheitern fehlen hier oft die großen Investoren, die man für die Vermarktung bräuchte. Auf der anderen Seite hat Deutschland einen sehr guten Mittelstand und eine gute Allgemeinbildung – nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch im Handwerk, aber wenn es eben um die Vermarktung geht, dann braucht man die großen Zahlen.

Danke, Herr Prof. Dr. Füller!

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Titelbild: HYVE

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